Du kennst das bestimmt. Da schaust du einem fremden, vielleicht älteren Menschen ins Gesicht und denkst… – Ja, was denkst du dann? Ich frage mich manchmal, welche Geschichten solche Gesichter erzählen. Vielleicht faszinieren mich Portraits genau aus diesem Grund. Sie haben manchmal etwas sehr geheimnisvolles.

Dieser alte Mann hat sich in einem Seniorenheim bereitwillig von mir ablichten lassen, gab mir sogar schriftlich die Einwilligung, es zu veröffentlichen und etwas dazu zu schreiben. Warum tut er das? Ist es Vertrauen oder eine Art Resignation nach dem Motto: „Ist doch wurscht.“

Er wurde 1939 im Januar geboren. Eine Hausgeburt irgendwo im Bergischen Land. Der 2. Weltkrieg sollte ausbrechen, als er seine ersten Schritte machte. Apropos Schritte. Als Kind stürzte er beim Laufen auf dem Schulhof so unglücklich, dass er erst unglaubliche eineinhalb Jahre und elf Operationen später aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ist das für uns vorstellbar, die wir uns so oft und manchmal zu undankbar über die schlimmen Zustände in der Pflege echauffieren? Eineinhalb Jahre, elf Operationen?

Seinen Traum, Arzt zu werden, hat er dann aufgeben müssen, weil er in der Schule den Anschluss verpasste. Später besuchte er die Höhere Handelsschule und arbeitete einige Jahrzehnte erfolgreich in dem, was man heute Controlling nennt. Nach heutigem Standard war er ein erfolgreicher, ein gestandener Mann. Er heiratete, wurde Vater von zwei Kindern und ist heute stolzer Opa von sechs und Uropa von acht (Ur)Enkelkindern.

Man kann sich gut mit ihm unterhalten. Wieder. Denn vor einigen Monaten sei das noch ganz anders gewesen. Es ging ihm so schlecht, dass das Pflegepersonal und seine Kinder mit dem Schlimmsten rechneten. Das war aber auch die Folge von der inzwischen 33. Operation seines Lebens. Herz und Nieren sind nicht mehr gesund, aber Unkraut vergeht nicht. Er hat sich berappelt und tut wieder das, was er sein Leben lang gerne getan hat: Sportsendungen schauen und lesen. Harpe Kerkeling liegt gerade bei ihm auf dem Tisch. Genauer gesagt sein Buch „Gebt mir etwas Zeit.“

„Das Lesen geht jetzt viel langsamer“, sagte er. Las er vor ein, zwei Jahren noch dicke Wälzer in wenigen Tagen, benötigt er heute einige Wochen. Er las mir etwas vor und ich war überrascht, wie gut es noch ging. Aber ja, wahrscheinlich war das sehr langsam im Vergleich mit den alten Zeiten.

Früher hat er viel Sport getrieben, obwohl ihm der Sturz auf dem Schulhof in der Konsequenz ein steifes Knie und ein verkürztes Bein bescherte. Das wiederum verursachte Probleme mit den Hüften. Aber früher war Feldhandball seins. Das spielte man auf einem regulären, großen Fußballfeld. Er war Torwart. Irgendwann faszinierte ihn das Tischtennis spielen so sehr, dass er die treibende Kraft im örtlichen Turnverein wurde, eine Tischtennisabteilung zu gründen. Lange Jahre war er der Leiter dieser Abteilung seines Vereins. Beides machte er übrigens mit links: Tischtennis spielen und ein Leader sein, der etwas bewegen wollte und konnte

Heute bewegt sich nicht mehr viel. Das Leben im Seniorenheim hat ihn eingeschränkt. Die letzten gesundheitlichen Krisen haben dafür gesorgt, dass er auf Hilfe und Unterstützung angewiesen ist und sich meist und sicherheitshalber auf den Rollstuhl verlässt. Zum Glück hat er seine Kinder in der Nähe, die ihn jede Woche besuchen kommen. In der Summe sogar mehrmals wöchentlich, weil seine Tochter um die Ecke wohnt.

Blickt man ihm tief in die Augen, studiert seine Gesichtszüge, hört ihn reden, dann kann man sich vorstellen, dass es sicher noch viel mehr zu erzählen gäbe. Zu erzählen über ein bewegtes Leben, bei dem ich mich des EIndrucks nicht erwehren kann, dass die schattigen Täler auch eine Menge Raum eingenommen haben müssen. Er nimmt es – so dachte ich – irgendwie gelassen hin. Im Grunde ein Wunder, dass er nicht total verbittert ist bei all der Schwere seines Lebens.

Das habe ich ihm auch mal gesagt.

„Ich finde es klasse, dass du bei alledem, was du durchgemacht hast, nicht verbittert bist, Papa.“

4 Replies to “Alte Leute. Langweilig, oder?”

  1. Lieber Ned, das Foto erinnert mich sehr an den jüngeren Bruder des „alten Mannes“. Wie sehr sich die Geschwister gleichen. Die Geschichte zu dem Foto kenne ich zum Teil aus meiner Kinderzeit, Du hast alles wunderbar geschildert. Wie schön, zu lesen, wie dieser vom Schicksal „gebeutelte“ Mensch damit fertig wurde. Dass er nicht verbittert u. unzufrieden sein Leben gelebt hat. Alle Achtung ,ich wünsche ihm u.Euch, dass er die kommende Zeit noch gesund u.weiter so optimistisch verbringen darf.
    Tolles Foto, toller Bericht!

  2. Lieber Ned,
    sehr schön hast du das geschrieben.
    Ich kenne diesen „alten Mann“ als liebenswerten Menschen, mag ihn sehr.
    Da geht mir das Herz auf.
    Ich schicke eine Umarmung. Conny

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